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(Un)perfekter Alltag

Wenn ein Leben nicht reicht

Wer kennt sie nicht? Die Überlegungen, was wäre geworden, wenn wir uns damals anders entschieden hätten? Vielleicht verlieren wir uns in Tagträumen, wie das Leben verlaufen wäre, hätten wir damals einen anderen Weg eingeschlagen.

Ich kann nie all die Menschen sein, die ich sein will, und all die Leben führen, die ich führen will. Ich kann mich nie in allen Fähigkeiten üben, in denen ich mich üben will. Doch warum will ich das? Um sämtliche Schattierungen, Töne und Variationen mentaler und physischer Erfahrungen zu erleben, die in meinem Leben möglich sind.

Sylvia Plath

Mir ist letztens ein wunderschöner Roman zu diesem Thema in die Hände gefallen, den ich Euch gerne empfehlen möchte. Ich finde, dem Autor Matt Haig ist es wirklich gelungen, der Idee von verschiedenen Möglichkeiten im Leben eine glaubhafte Form zu geben.

langes Buchregal, von der Decke hängen Glühbirnen an Bändern

Nora Seed ist 35 Jahre jung und will ihrem Leben ein Ende setzen. Im ersten Drittel des Buches erfahren wir auch warum. Wir lernen Nora und ihr Leben 27 Stunden, neun Stunden, acht, sieben und fünf Stunden, bevor Nora beschließt zu sterben, kennen. Nora Seed hat ein abgeschlossenes Philosophiestudium, arbeitet aber in einem kleinen Musikladen. Außerdem gibt sie Klavierunterricht, spielt aber selbst selten Klavier. Sie war als 14-jährige Landesmeisterin im Brustschwimmen, hatte Chancen zu Olympia zu fahren und trotzdem fühlt sie sich hoffnungslos und nutzlos, als sie beschließt zu sterben. Sie hat einen Vertrag mit einer Plattenfirma abgesagt und ihren Verlobten zwei Tage vor der Hochzeit verlassen. Auf den Punkt bringt es der beste Freund ihres Bruders: „Ich glaube nicht, dass dein Problem Lampenfieber war, Auftrittsangst. Oder Hochzeitsangst. Ich glaube, dein Problem war Lebensangst.“

Nora nimmt eine Überdosis ihrer Tabletten und landet in der Mitternachtsbibliothek. Diese befindet sich zwischen Leben und Tod. Mrs Elm, die wir schon kennen, neunzehn Jahre bevor Nora beschließt zu sterben, begleitet Nora durch die Mitternachtsbibliothek. Diese Bibliothek besteht aus endlosen Regalen, alle voll mit grünen Büchern. Manche Bücher sind dick, manche dünn wie Broschüren. Die Grüntöne variieren von hellgrün bis dunkelgrün. Jedes Buch bietet die Chance, ein anderes Leben auszuprobieren. Die Chance zu sehen, wie alles anders gekommen wäre, wenn Nora sich anders entschieden hätte.

Nach einigem Widerwillen taucht Nora in Bücher, die alle den Titel „Mein Leben“ haben ein und wir sehen, wie Noras Leben verlaufen wäre, wenn sie Dan doch geheitratet hätte und ihn nicht zwei Tage vor der Hochzeit hätte sitzen lassen. Wir erfahren, wie es Nora ergangen wäre als Tierheimmitarbeiterin oder Profisportlerin. Sie nimmt uns mit nach Australien, Mexico und Spitzbergen.

Wecker (fünf nach 12) steht auf Schreibtisch

Dieser Roman ist sehr kurzweilig geschrieben. Durch Noras Vorliebe für Philosophen und deren Aussagen regt es dazu an, sich seine eigenen Gedanken zu machen. Nora taucht anfangs zwar widerwillig in ihre Leben ein – nach dem Buch des Bereuens kann das jeder gut verstehen – aber dann spürt man richtig, wie Nora neugierig auf ihre weiteren Leben wird und auch Kehrseiten kennenlernt. Zu Beginn von Noras neuen Leben muss sie sich immer neu orientieren. Das kann teilweise witzig sein.

Manchmal kennt sie die anwesenden Menschen überhaupt nicht und muss diese über sich ausfragen. Ihre Körper haben oft einen anderen Fitnesszustand. Ihren Körper als Profisportlerin fand sie so faszinierend, dass sie gleich zehn Liegestütze ausprobiert hat. Ich konnte es kaum abwarten, bis sie mein favorisiertes Leben endlich ausprobierte und war überrascht, dass es einen anderen Verlauf nahm als von mir angenommen. Zum Ende der Geschichte sitzt man, wie zu Beginn, mit Mrs. Elm vor dem Schachbrett und fühlt, dass die Geschichte wunderbar abgerundet ist.

Matt Haig hat seine Idee in verschiedene Möglichkeiten des Lebens zu tauchen, realistisch und glaubhaft umgesetzt. Noras Depression oder eher ihre Lebensangst hat er so feinfühlig beschrieben, dass der Leser nachvollziehen kann, wie Nora zu dem Entschluss zu sterben kommt.

Ich würde mich freuen, wenn Euch der Roman genauso gut gefällt wie mir. Übrigens, ich habe den Roman gehört und gelesen. Wer lieber hört als liest, der sollte sich das Hörbuch kaufen. Annette Frier liest „Die Mitternachtsbibliothek“ sehr einfühlsam. Ihre markante Stimme gibt manchen Fragen die nötige Tiefe. Und nur gemeinsam mit Annette Frier möchte man einen Schauspieler abservieren.

Wenn ihr das Buch gelesen oder gehört habt, dann hinterlasst uns doch euren Kommentar zu dem Buch.

Bilder: Pixabay

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